Demo-Flyer
Juli - September 2012





Privater Reichtum für öffentliche Aufgaben? (24.09.2012)
Wie ein Satz die Bundesregierung aufschreckt

Noch liegt er gar nicht offiziell vor und schon wird heftig darüber debattiert - der Armuts- und Reichtumsbericht 2012. Dabei enthält er für jemanden, der sich mit Problemen von sozialer Ungleichheit beschäftigt, keine wirklich überraschenden Aussagen. Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt, dass das Privatvermögen in Deutschland weiter wächst, aber immer weniger Menschen daran einen Anteil haben.
Die Reichsten 10% der Deutschen besitzen inzwischen mehr die Hälfte (53%) des Vermögens und 50% der Deutschen verfügen nur über 1% der insgesamt 4,8 Billionen Euro an Barvermögen.
Auch beim Einkommen gibt es immer größere Unterschiede. Die unteren Lohngruppen mussten Einbußen hinnehmen. Während bei ihnen aufgrund der Preissteigerungen der Reallohn sank, stieg er in den oberen Einkommensgruppen.
Auch der Staat hat weniger Geld. Im Bericht heißt es dazu: "Während das Nettovermögen des deutschen Staates zwischen Anfang 1992 und Anfang 2009 um knapp 700 Milliarden Euro zurückging, hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte (einschließlich privater Organisationen ohne Erwerbszweck) von rund 4,7 auf rund 9,3 Billionen Euro annähernd verdoppelt".
Aufgeschreckt wurde einige Politiker durch den folgenden Satz: "Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann."
Wirtschaftsminister Philipp Rösler meldete sich aus Bangkok, um zu verkünden - höhere Steuern seien falsch! Und die Kanzlerin bestätigt sofort, auch sie halte nichts von Vermögensabgaben. Denn dann seien ja mittelständige Unternehmen betroffen und die könnten vielleicht das Land verlassen. Und der Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter (CDU) warnte, eine stärkere Besteuerung von Vermögen würde in erster Linie die arbeitende Mittelschicht über Mieten und Löhne treffen (Quelle: Online-Ausgabe der FAZ vom 20.09.2012). Ob wohl der kritisierte Satz in der Endfassung noch zu finden sein wird?
Derweil rufen Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden gemeinsamen mit vielen Initiativen für den 29.09.2012 zu einem bundesweiten Aktionstag "Umfairteilen" auf. Sie fordern eine Vermögenssteuer und eine einmalige Vermögensabgabe (also nichts, was ein mittelständiges Unternehmen treffen könnten).
Als einzige im Bundestag vertretene Partei unterstützt die LINKE den Aufruf, auch die Piratenpartei und einzelne Gruppierungen der SPD und Bündnis 90/ Die Grünen.





"Co op" - Steuergelder für den Niedriglohn (17.09.2012)

Die als "Instrumentenreform" bezeichneten Gesetzesänderungen, die zum April 2012 in Kraft traten, haben die Möglichkeiten der Arbeitsförderung so eingeschränkt, dass es für Arbeitsagenturen oder Grundsicherungsträger wie Jenarbeit immer schwieriger wird, die schon gekürzten Mittel überhaupt auszugeben. Es gibt jedoch auch Ausnahmen: Programme, die außerhalb der noch erlaubten Förderung laufen, über deren Sinn jedoch erhebliche Zweifel bestehen.
Eines davon ist das so genannte COOP [+], das sich jetzt in seiner dritten (und vermutlich letzten) Phase befindet. Die "Perspektive 50plus - Beschäftigungspakte für Ältere in den Regionen" gibt es seit 2005, und in den ersten Jahren wurden neben den Versuchen, älteren Erwerbslosen Arbeit zu vermitteln auch Weiterbildung, "Kompetenzfeststellung", Unterstützung von Selbständigkeit und die "Kommunikationswerkstatt" gefördert. All diese Dinge wurden nach ersten Phase im Jahre 2008 aufgegeben, übrig blieben "Aktivierung" und "Integration". Wie sich diese im Jahr 2012 gestaltet, konnten sich die Mitglieder des Werkausschusses "jenarbeit" in ihrer Sitzung in der vergangenen Woche anhören.
Für die Umsetzung des Programms sind in den neun beteiligten Jobcentern zwischen Jena und Saalfeld insgesamt 57 Mitarbeiter/innen zuständig. In Jena werden ca. 400 Erwerbslose betreut, davon 150 als "relativ marktnahe Teilnehmer". Die anderen gelten als "Schwer(st)vermittelbare". Hier ist das Ziel das "Erreichen der Arbeitsmarktnähe".
Die Finanzierung des Programms erfolgt auf eine sehr spezifische Weise: Die Mittel für das kommenden Jahr werden in der Höhe ausgereicht, wie sie in diesem Jahr ausgegeben werden. Um ihren eigenen Arbeitsplatz zu sichern, müssen sich die Mitarbeiter/innen daher bemühen, entsprechend viele "Aktivierungen" und "Integrationen" durchzuführen.
Mit den "Aktivierungen" (gemeint sind hier zum Beispiel Bewerbungstraining und "Kompetenzerweiterung", aber auch Sport und Vorträge zur Gesundheit!) dürfte es weniger Probleme geben als mit der "Integration". Die Vermittlung auf den so genannten ersten Arbeitsmarkt. gelang in diesem Jahr insgesamt 72mal, wobei 27 der geschlossenen Arbeitsverträge allerdings auf 6 Monate und weniger befristet waren. Im vergangenen Jahr hatte ich gefragt, wie viele der Stellen ein existenzsicherndes Einkommen aufwiesen und wie viele der Vermittelten danach nicht mehr auf Leistungen von jenarbeit angewiesen war. Damals hieß es, dies wisse man nicht, und existenzsichernde Beschäftigung sei nicht Ziel des Programms. Diesmal fragte, welche Einkommen erzielt würden. Die Antwort lautet, dass diese im Wesentlichen zwischen 700 und 1200 € liegen. Fazit: Hier werden Steuergelder ausgegeben, um den Niedriglohnsektor zu erweitern!




Rechtsbruch in Wuppertal (10.09.2012)

Die Stadt Wuppertal, mit 350.000 Einwohnen eine der größten Städte Nordrhein-Westfalens (offizielle Arbeitslosenquote 12,2%), hat im August 2012 insgesamt 10.431 Zahlungsaufforderungen an Hartz-IV-Empfänger und an Menschen verschickt, die früher Leistungen bekommen haben. Wie Harald Thomé vom bundesweit bekannten, in Wuppertal beheimateten Verein Tacheles e.V. dokumentiert, hat die Stadt offenbar ohne Prüfung der näheren Umstände alle Forderungen des Jobcenters übernommen. Angst und Verunsicherung unter den Betroffenen warenentsprechend groß. (Um sich die Dimensionen vorzustellen: Es wäre ungefähr so, als würde die Stadtverwaltung Jena auf einen Schlag 1.000 Forderungen an Erwerbslose und Aufstocker verschicken.)
Allerdings waren die Schreiben schon allein deshalb rechtswidrig, weil aus ihnen nicht eindeutig hervorging, auf welcher Grundlage (z.B. welchem Erstattungsbescheid) die Forderung beruhte. Auch sollte das Geld innerhalb einer Woche eingezahlt werden, was bei Beträgen von teilweise mehreren hundert Euro für viele Betroffene nicht zu realisieren war.
Von Seiten der Stadt wurde dann behauptet, es handle sich lediglich um eine "Kontoklärung" und es würden bei Nicht-Zahlung keine Mahngebühren erhoben. Dazu schreibt Thomé: "Entgegen der Beteuerungen des Presseamtes und der Stadtkasse entfaltet die Zahlungsaufforderung Rechtsbindungswirkung. Voraussetzung für Vollstreckungsmaßnahmen, Mahnkosten, Verzinsung etc. ist eine Zahlungsaufforderung. Um genau eine solche handelt es sich, trotz gegenteiliger Beteuerung.
Gleichzeitig widerspricht sich die Verwaltung selbst, wenn sie behauptet, sie habe mit einem erheblichen Teil der Forderungsempfänger Ratenzahlungsvereinbarungen getroffen. Es stellt sich daher die Frage, wenn die Zahlungsaufforderung lediglich der Kontoklärung diente, warum wurden dann Ratenzahlungsvereinbarungen getroffen?" (zit. nach www.tacheles-sozialhilfe.de)
Weitere Rechtsbrüche: Bei den Forderungen war nicht geprüft worden, ob der Betrag auf die laufenden Leistungen hätte aufgerechnet werden können. In mehreren Fällen wurden Darlehen zurückgefordert, ob die Leistungen - zum Beispiel für die Erstausstattung einer Wohnung - als Zuschuss gezahlt werden müssen. Bei einigen Zahlungsaufforderungen waren die genannten Beträge schlicht falsch, auch weil die Betroffenen bereits einen Teil beglichen hatten. Andere hatten Widerspruch eingelegt, was bekanntlich aufschiebende Wirkung hat. Nicht bekannt ist, ob sich die Stadtverwaltung für ihr Vorgehen entschuldigen wird.




Die Hartz - Kommission (03.09.2012)

Vor zehn Jahren - im August 2002 - legte die so genannte Hartz - Kommission ihren Abschlussbericht vor. Die aus diesem Anlass verfassten Presseberichte sind erwartungsgemäß sehr unterschiedlich. Die Befürworter bezeichnen die Reformen vor allem deshalb als Erfolg, da die Arbeitslosigkeit gesunken sei. Dieses Ziel hatte die Kommission tatsächlich. Dazu schreibt Isolde Kunkel-Weber, die als Mitglied des Verdi-Bundesvorstands dieser Kommission angehörte (Quelle: http://www.ftd.de, Financial Times Deutschland): "Das ehrgeizige Ziel war eine effizientere Betreuung und Vermittlung von Erwerbslosen und die Reduzierung der Arbeitslosenzahl um zwei Millionen binnen drei Jahren." Und fügt hinzu: "Es ist nach wie vor außerordentlich bemerkenswert und positiv, dass die unterschiedlichen Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kirchen, Gewerkschaften, Politik und Unternehmensberatungen mit ihren teils divergierenden politischen und gesellschaftlichen Einstellungen einen gemeinsamen Abschlussbericht im Konsens vorgelegt haben." Und schreibt weiter: "Was allerdings vom Konzept der Kommission übrig geblieben ist und in die Hartz-Gesetze I bis IV gegossen wurde, hat nicht nur für Spott, Häme und berechtigten Zorn gesorgt. Es hat auch nur noch in kleinen Teilen etwas mit den Ideen und Ansprüchen der Hartz-Kommission zu tun. Die angeblichen Hartz-Reformen sind in Wahrheit eine Schröder-Clement-Koch-Reform - mit teils fatalen Folgen bis heute (...) Dazu trägt auch bei, dass die Politik die neue Sozialleistung eher grobschlächtig auf einen willkürlichen Durchschnitt der Sozialhilfe herunterschraubte, statt dem Vorschlag der Hartz-Kommission zu folgen und sich am Durchschnitt der Arbeitslosenhilfe zu orientieren. Hier ist Gerhard Schröder persönlich wortbrüchig geworden, denn er hatte öffentlich explizit das Gegenteil zugesagt."
Die Arbeitslosenhilfe war 1956 in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt worden, den Rechtsanspruch auf Sozialhilfe gibt es seit den 60er Jahren.
Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sollte eigentlich dazu beitragen, dass auch Sozialhilfeempfänger Anspruch auf die Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit bekommen. Allerdings wäre dies auch möglich gewesen, ohne die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen. Aber genau das war offenbar das Ziel der Politik. Wie Helga Spindler in ihrem Artikel "Die Ghostwriter" ("Junge Welt" vom 16.08.2012) schreibt, gab es bereits vor der Hartz-Kommission eine - von der Bertelsmann-Stiftung finanziell und logistisch unterstützte - Arbeitsgruppe, die genau zu diesem Vorschlag gekommen war und ihn als "alternativlos" bezeichnet hatte. So stand das Ergebnis der Hartz - Reform fest bevor die Kommission überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hatte.




Umfairteilen! (27.08.2012)

Ein Bündnis aus Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, attac und weiteren Organisationen ruft für Sonnabend, den 29. September 2012, zu einem bundesweiten Aktionstag "Umfairteilen" auf. Die Forderungen lauten: Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine einmalige Vermögensabgabe und eine Steuer auf Finanzmarktgeschäfte.
Auf seiner Internetseite "www.umfairteilen.de" verweist das Bündnis auf mögliche Aktionen, die an diesem Tag oder im Vorfeld davon stattfinden könnten. Eine davon ist die "Rückwärtsdemonstration", mit der symbolisch der soziale Rückschritt unserer Gesellschaft dargestellt wird. Zumindest erregt es Aufmerksamkeit, wenn eine Gruppe Menschen rückwärts durch die Fußgängerzone läuft. Günstigerweise sollte man Plakate und ein Megaphon dabei haben, um die Aktion zu begründen, zum Beispiel mit den Losungen "Reichtum umverteilen - sozialen Rückschritt stoppen!", "Reichtum hier und Armut dort - so werft Ihr die Zukunft fort!"
Eine weitere Möglichkeit sind satirische Aktionen, in deren Mittelpunkt sehr gut gekleidete Menschen stehen, die ihren Reichtum zur Schau stellen und mehr noch davon fordern.
Erheblich mehr Aufwand als die bisher genannten erfordert die Darstellung "Der Reichenberg und das Finanzloch". Benötigt wird eine Baulücke, in der ein Loch gegraben und damit ein Berg aufgeschüttet wird - wobei der Berg realistischerweise höher sein muss als das Loch tief.
Einfacher wiederum lässt sich die Aktion "Blinde Kuh" vor dem Finanzamt darstellen. Wenn die Teilnehmer mit Augenbinden herumlaufen, muss natürlich auch hier erklärt werden, was gemeint ist, zum Beispiel: "Steuerflucht-Bekämpfung geht nur ohne Augenbinde", "Augen auf! Reichtum besteuern!"
Ein wenig Nachdenken erfordert die Aktion "Ihr Gesundheitsamt rät...", wenn Flyer verteilt werden, auf denen steht: "Geld macht nicht glücklich! Kommen Sie zu den Treffen der anonymen Renditeabhängigen". E wird auf der Straße eine Beratungsstelle aufgebaut, in der "sich Reiche (und Neugierige natürlich!) über die Risiken und Nebenwirkungen von zu viel Geld informieren können. Ein paar fein gekleidete Aktivisten, die sich als ,geheilt' vielmals bedanken und verabschieden runden das Bild ab." Der ernste Hintergrund des Aktionstages: das Privatvermögen in Deutschland beträgt inzwischen acht Billionen € und übersteigt damit die öffentliche Schulden. Im Aufruf heißt es: "In dieser Situation gibt es nur einen seriösen Ausweg: Das wachsende Privatvermögen der Reichen und Superreichen muss endlich wieder besteuert werden. Sie müssen dringend zur Finanzierung der notwendigen öffentlichen Ausgaben und zum Abbau der Staatsverschuldung herangezogen werden."




Alternativen sind möglich !(20.08.2012)

Politische Entscheidungen der Bundesregierung - wie etwa die zur Erhöhung des Rentenalters, aber auch zum Europäischen "Rettungsschirm" - werden häufig als "alternativlos" bezeichnet. Und wenn gespart werden muss, dann bei den Sozialausgaben - auch das erscheint ohne Alternative in Deutschland. Das es auch anders geht, kann man jetzt an in Frankreich beobachten.
Seit dem 6. Mai 2012 hat Frankreich mit Franηois Hollande einen sozialistischen Präsidenten. Durch den Erfolg der Sozialistischen Partei bei den Parlamentswahlen haben diese in der Nationalversammlung die absolute Mehrheit.
Wie ist die Situation? Im Jahr 2012 fehlen im Haushalt sechs bis zehn Milliarden Euro, wenn Frankreich seine Pflichten zu sparen einhalten will.
Und was beschließt der Präsident? Zunächst einmal kürzt er sein Gehalt und das seiner Minister um 30%. Und dann will an das Geld der Vermögende! Allein eine Sonderabgabe bei der Vermögenssteuer sollen 2,3 Milliarden Euro einbringen. Der Spitzensatz für Einkommensmillionäre soll auf 75% angehoben werden.
Der nach dem Regierungsantritt veröffentlichte 60-Punkte-Plan sieht eine ganze Reihe von weiteren Maßnahmen vor.
So dürfen nach Vorstellung des Präsidenten Unternehmer, die Gewinne erwirtschaften, keine Beschäftigten entlassen. In Unternehmen, an denen der Staat mit mehr als 50% beteiligt ist, dürfen die Gehaltsunterschiede nicht mehr als das Zwanzigfache des Mindestlohn betragen. Das würde bedeuten, dass die Vorstandsmitglieder beispielweise der französischen Post dann maximal 335.000 € im Jahr bekämen. Derzeit betragen die Spitzengehälter bis zu 5 Millionen!
Hollandes ehrgeizige Pläne gehen noch weiter. Er will 65.000 Stellen im Staatsdienst streichen - niemanden entlassen, aber Stellen nicht wieder besetzen - dafür Lehrer, aber auch Polizisten neu einstellen.
Besonders viele Stellen sollen im Verteidigungsministerium gestrichen und auch die Streitkräfte sollen verkleinert werden.
Geplant ist ein Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit (angesichts der erneuten Unruhen eine dringende Aufgabe!) und Betriebe, die jungen Menschen einstellen, ohne ältere Beschäftigte zu entlassen, sollen besonders gefördert werden.
Die trotz großer Protest unter Sarkozy eingeführte Anhebung des Rentenalter von 60 auf 62 Jahre wird zumindest für diejenigen zurückgenommen, die mindestens 45 Jahre gearbeitet haben.
Ob es Hollande gelingt, mit Unterstützung des Parlaments seine Pläne umzusetzen, bleibt abzuwarten. Aber - Alternativen sind möglich!




Leben im Schatten des Leuchtturms (13.08.2012)

Jena wird auch als "Leuchtturm" Thüringens oder gar des Ostens bezeichnet. Die Bevölkerung wächst, die ohnehin geringe Arbeitslosigkeit sinkt weiter, auch die Zahl der Bedarfsgemeinschaften.
So waren im Jahredurchschnitt 2011 knapp 9.000 Menschen bei jenarbeit gemeldet, darunter 2.000 Kinder (bis 15 Jahre). Damit leben 16% der 12.500 Kinder und Jugendliche dieser Altersgruppe in Hartz-IV-Familien. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei unter 7%. Allerdings sind zwei Drittel aller Erwerbslosem länger als ein Jahr arbeitslos. Je älter der Mensch wird, desto geringer seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. So sind 26% der Langzeitarbeitslosen älter als 50 Jahre. Insgesamt sind 1.900 über 50 Jährige auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen, davon ca. 600 über 60 Jahre alt. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung dieses Alters sind es 11%. Wer das 63. Lebensjahr vollendet hat, dem droht die Zwangsverrentung und in zunehmenden Maße die Altersmut.
Deutlich zugenommen hat die Zahl der geringfügig Beschäftigten. Im Jahr 2011 gab es 37.000 sozialpflichtige Beschäftigte (seit 2005 ein Anstieg um über 4.000 bzw. 11%) und geringfügig beschäftigt waren 8.700 (seit 2005 Anstieg um 1.600 bzw. 18%) Prozentual steigt die Zahl der "Aufstocker" unter den Hartz-IV-Empfängern. Von 6278 Leistungsberechtigten (älter als 15 Jahre, Zahlen vom März 2012) erzielten 2576 Erwerbseinkommen, konnten aber davon nicht leben.
Laut Angaben der Wohngeldbehörde erhalten derzeit knapp 3000 Jenaer Haushalte Wohngeld, ein Drittel entfällt auf Haushalte mit Rentnerinnen und Rentner, knapp 600 Studierende haben Anspruch und 500 Kinder, die Mitglieder von Bedarfsgemeinschaften sind.
800 Haushalte der Stadt Jena erhalten Wohngeld aufgrund von Arbeitslosigkeit oder geringem Einkommen. Die genaue Zahl der Berechtigten kann nicht benannt werden, da die Statistik diese nicht erfasst. Bekannt ist, dass Ύ aller Haushalte 1- und 2-Personen-Haushalte sind, so dass von etwa 1.500 Menschen ausgegangen werden kann.
Vor mehr als zehn Jahren untersuchte die Soziologie Petra Böhnke, heute Professorin an der Universität Hamburg, den Zusammenhang zwischen der Lebenssituation eines Menschen und der Wahrscheinlichkeit, psychosoziale Probleme zu bekommen. Die von ihr genutzten empirischen Untersuchungen zur Lebenssituation und zum Wohlbefinden erbrachten folgendes Ergebnis: gute Lebensbedingungen führen nur selten (bei 5% der Befragten) zu psychosozialen Problemen. Wer in mehreren Lebensbereichen unterversorgt ist, dessen Risikos steigt um das 4 - 5fache. Daher nützt es Betroffenen wenig, wenn sie in einer Stadt mit geringer Arbeitslosigkeit und Armut leben.
(Alle Zahlangaben nach der Statistikstelle der Stadt Jena und jenarbeit)





8 Jahre Montagsdemonstration (09.08.2012)

Nicht nur in Jena, sondern in zahlreichen anderen Städten der Bundesrepublik Deutschland stehen Montag für Montag Menschen auf der Straße, um gegen Hartz IV zu protestieren. Es sind nicht mehr viele und sie werden belächelt oder verlacht, mitunter auch bewundert. Aber es gibt viele Gründe, auch siebeneinhalb Jahre nach Einführung des Gesetzes auf dessen Folgen aufmerksam zu machen.
Denn Hartz IV ist vor allem, aber nicht nur "Armut per Gesetz". Betroffen sind mehr sechs Millionen Menschen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren die Verfassungswidrigkeit der Regelsätze festgestellt hatte, war es aufgrund der fragwürdigen Berechnungen des Bundesregierung nur zu einer geringfügigen Erhöhung gekommen. Inzwischen hat das Sozialgericht Berlin die Höhe des Regelsatzes erneut beanstandet und diese wiederum dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt. Nie zuvor wurde soviel gegen ein Gesetz geklagt wie gegen Hartz IV. Und auch nach sieben Jahren und zahlreichen Änderungen haben Widersprüche und Klagen Erfolg.
Obwohl es kein Recht auf Arbeit gibt und offiziell 2,8 Millionen Menschen erwerbslos sind, werden Arbeitslose mehr denn je Restriktionen ausgesetzt. Und dies betrifft alle Erwerblosen. So wurden im Jahr 2011 über 900.000 Sanktionen, aber auch 728.000 Sperren gegen ALG I - Empfänger verhängt. Obwohl Widersprüche und Klagen in vielen Fällen Erfolg haben, wurden die Bedingungen weiter verschärft - die Mittel für die Weiterbildung und Arbeitsförderung hingegen massiv gekürzt.
Die Bedingungen, denen Arbeitslose unterworfen sind, vor allem die Pflicht, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, erhöhen den Druck auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich gegen geringe Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen. Denn auch das ist eine Folge von Hartz IV. Seit 2005 haben Leiharbeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse deutlich zugenommen. Acht Millionen Menschen, fast 23% aller Beschäftigten sind inzwischen im Niedriglohnsektor tätig - mit durchschnittlichen Stundenlöhnen unter 7,00 € brutto.
Die Arbeitslosigkeit hat sich insgesamt verringert, der prozentualer Anteil der "Aufstocker" aber erhöht. So erhalten in der Stadt Jena (bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von unter 7 %) 6278 Leistungsberechtigten (älter als 15 Jahre, Zahlen vom März 2012) 2576 aufstockende Leistungen, da ihr Erwerbseinkommen nicht ausreicht. Und es muss davon ausgegangen werden, dass viele Geringverdiener ihre Ansprüche nicht geltend machen.
Die Statistik spiegelt also nicht die wirklichen Verhältnisse wieder, ebenso wenig wie die Arbeitslosenstatistik, in der nach wie vor mindestens eine Million Menschen als "Unterbeschäftigte" das Ausmaß der Arbeitslosigkeit beschönigen. So werden Arbeitslose, die älter als 58 Jahre alt sind und denen die Behörde seit mehr als einem Jahr keine Arbeit angeboten hat, nicht mehr als arbeitslos geführt. Ihnen, wie auch der zunehmenden Zahl der Geringverdiener droht die Altersarmut. Immer mehr Menschen sind auf das Hartz IV - "Pedant" - die Grundsicherung im Alter - angewiesen.
Die Gesellschaft nimmt billigend in Kauf, dass im reichen Deutschland immer mehr Menschen arm sind. Wenn Tafeln zum integralen Bestandteil der Gesellschaft werden, dann wird eine sich verfestigende und auf Generationen ausgeweitete Armut akzeptiert. Damit sinken auch die Chancen von Kindern und Jugendlichen aus diesen Familien.




Jobcenter gepfändet! (30.07.2012)
Eine nachahmenswerte Geschichte

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit legte jetzt einen Bericht über die "Übergänge von ALG-II-Beziehern in die erste Sanktion" (Forschungsbericht 11/2012, Download unter www.iab.de) vor und stellte dabei fest, dass Arbeitslose mit höherem Schulabschluss, Frauen und ältere Arbeitslose seltener von Leistungskürzungen betroffen sind als Männer und unter 25jährige. Außerdem wird in den westdeutschen Bundesländern häufiger sanktioniert als im Osten, wobei die Gründe dafür in der "besseren Arbeitsmarktlage" gesehen werden. Warum bei Familien mit kleinen Kindern die Väter, aber selten die Mütter sanktioniert werden, und es Frauen eher schaffen Sanktionen abzuwenden, konnten die Autoren des Berichts nicht erklären und sehen deshalb noch "einen großen Forschungsbedarf".
Nicht untersucht wurde, warum mehr als die Hälfte der Sanktionen vor den Sozialgerichten keinen Bestand haben. Als Folge eines solches Beschluss spielte sich - unbemerkt oder ignoriert von den "großen" Medien - in einem Leipziger Jobcenter eine nicht alltägliche Geschichte ab: das Jobcenter wurde gepfändet.
Was war passiert? Ein Gerichtsvollzieher des Amtsgerichtes Leipzig war mit einem Zwangsvollstreckungsauftrag gekommen, um Geld für einen Hatz-IV-Empfänger einzutreiben.
Dem vorausgegangen war folgende Gegebenheit: ein 44-jähriger Mann war sanktioniert worden, weil er sich nach Meinung der Behörde geweigert hatte einen Ein-Euro-Job anzunehmen. Tatsächlich war der Mann bei der Einsatzstelle gewesen, hatte aber keinen Lebenslauf vorgelegt und war deshalb weggeschickt worden.
Gegen die Sanktion legte der Mann Widerspruch ein und klagte vor dem Sozialgericht. Dieses gab seiner Klage statt und verpflichtete das Jobcenter, die Leistungskürzung zurückzunehmen und das einbehaltene Geld (202,20 €) auszuzahlen. Der Mann ging mit dem Beschluss zur Behörde und forderte sein Geld ein, was diese verweigerte. Auf den Rat eines Rechtsanwalts hin beantragte er beim Amtsgericht die Zwangsvollstreckung. Der Gerichtsvollzieher rief beim Jobcenter an, worauf Geld überwiesen wurde - allerdings nur ein Teilbetrag. Über das Ende der Geschichte existieren zwei Versionen: in der einen holt sich der Gerichtsvollzieher das Geld aus der Bar-Kasse des Jobcenters, in der anderen bringt eine Mitarbeiterin das Geld zu dem Arbeitslosen nach Hause. Eine bemerkenswerte Geschichte und eine, die Schule machen sollte, wenn die Behörden Urteile von Sozialgerichten nicht anerkennen wollen.




Menschenwürde ist nicht zu relativieren! (23.07.2012)
Asylsuchende erhalten höhere Leistungen

"Der Senat hat entschieden, dass die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz das vom Grundgesetz geforderte menschenwürdige Existenzminimum evident verfehlen. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich eine verfassungsgerechte Neuregelung zu treffen". Diese Aussage kommt vom Bundesverfassungsgericht. Es verpflichtete die Bundesregierung außerdem, Asylsuchenden ab sofort höhere Leistungen zu zahlen.
Wie ist die Situation? Das heute gültige Asylbewerberleistungsgesetz wurde 1993 beschlossen. Damals wurde auch die Höhe der Leistungen festgelegt, was bedeutet, dass sie seitdem nicht angehoben wurden. Und das, obwohl die Lebenshaltungskosten in Deutschland seitdem um etwa 30% gestiegen sind. Und so hat ein Erwachsener, der so genannte Haushaltsvorstand, heute Anspruch auf 225 €. Ausgezahlt werden ihm häufig lediglich 40 € Taschengeld, das Übrige wird als Sachleistung wie zum Beispiel Gutscheine gewährt. Ab sofort müssen 336 € gewährt werden. Wer von Hartz IV leben muss, weiß, wie wenig 374 € im Monat sind. Asylsuchende, die oft seit Jahren hier leben und nicht arbeiten dürfen, können daher kaum ihre physischen Bedürfnisse befriedigen.
Die Zahl der Asylsuchenden ist in den vergangenen Jahren gesunken. Bekamen im Jahr 2006 noch etwa 194.000 Menschen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, waren es 2010 noch 130.000. Nicht alle sind Asylbewerber, da auch viele Menschen, deren Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, in Deutschland leben, da sie aus humanitären Gründen nicht in ihre Heimatländer zurück geschickt werden können. Bekanntlich hatte im Februar 2010 das Bundesverfassungsgericht die Hartz-IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärt und die Bundesregierung aufgefordert, diese neue zu berechnen. Es brauchte noch einmal zwei Jahre, nun auch die Leistungen für Asylsuchende und Flüchtlinge zu kippen. In der Urteilsbegründung betonte der Vizepräsident Ferdinand Kirchhof, dass die Leistungen nicht aus politische Erwägungen niedrig gehalten werden dürfen. "Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren", sagte er.
In Jena sind derzeit 48 Asylsuchende, darunter 13 Kinder bis 16 Jahren - aus Afghanistan, Iran, Irak, Syrien und weiteren Ländern - untergebracht.
Aufgrund der Situation in diesen Ländern besteht eine hohe Schutzquote, das heißt, dass auch bei nicht Nicht-Anerkennung des Asylantrags die Menschen für längere Zeit ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt haben werden. Asylsuchende haben keinen Anspruch auf Integrationskurse. Die Stadt Jena fördert als freiwillige Leistung den Sprachunterricht von Kindern und Erwachsenen sowie die Alphabetisierung von Kindern, um diese auf den Schulunterricht vorzubereiten.




Der dritte Weg? Arbeitsbedingungen in Einrichtungen der Diakonie (16.07.2012)

Als "dritten Weg" bezeichnet man im Allgemeinen eine dritte Möglichkeit, die zwei gegensätzliche, aber ungeeignete Alternative ersetzen kann. Auch kirchliche Einrichtungen bezeichnen die Art ihrer Geschäftstätigkeit als "dritten Weg". Dass dessen Folgen wenig Positives haben, zeigt der jetzt veröffentlichte Abschlussbericht eines Forschungsprojektes. Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung untersuchten Wissenschaftler die Arbeitsbedingungen von Einrichtungen der Diakonie, von denen es derzeit etwas 27.000 mit 435.000 Beschäftigten gibt.*
Der "dritte Weg" bedeutet hier eine "christliche "Dienstgemeinschaft" zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Daher sind Löhne und Arbeitsbedingungen nicht durch Tarifverträge (den "zweiten Weg"), sondern durch so genannte Arbeitsvertragliche Richtlinien geregelt. Das heißt zum Beispiel, dass die Mitarbeiter/innen nicht streiken dürfen und die Mitbestimmung von Personal- und Betriebsräten teilweise eingeschränkt ist.
An dieser Situation sind nicht unbedingt die kirchlichen Einrichtungen schuld. So arbeiten diese noch bis vor etwa zwanzig Jahren nach dem Prinzip der Kostendeckung und rechneten auf diese Weise mit den Krankenkassen und Sozialhilfeträgern ab. Aufgrund zahlreicher Gesetzesänderungen und vor allem der Gesundheits"reform" existiert heute ein "Sozialmarkt", auf dem kirchliche, staatliche und private Einrichtungen miteinander konkurrieren. Dadurch entstand ein Kostendruck, in dessen Folgen die Gehälter, die sich zuvor an der Bezahlung im öffentlichen Dienst orientiert hatte, sich immer weiter von diesem entfernten. Hinzu kam die Ausgliederung von Betriebsteilen. Insbesondere Reinigungs- und Küchenpersonal wurden in "Servicegesellschaften" überführt, was zu einer Verringerung der Löhne und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führte. Leiharbeit diente als weitere Möglichkeit die Lohnkosten zu senken. Letztere verlor an Bedeutung, nachdem der Kirchengerichtshof der EKD Leiharbeit bei auf Dauer angelegten Arbeitsplätzen als mit kirchlichen Grundsätzen unvereinbar erklärt hatte. Da auch die Rechte der Leiharbeiter/innen inzwischen verbessert wurden, weichen kirchliche Einrichtungenen - wie die Wirtschaft oder öffentliche Einrichtungen wie Universitäten - zum Teil auf schlecht bezahlte Werkverträge aus.
Letztendlich kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass der "dritte Weg" in der Praxis der diakonischen Einrichtungen gar nicht existiert.

*Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Anna Stefaniak, Norbert Wohlfahrt: Leiharbeit und Ausgliederung in diakonischen Sozialunternehmen: Der "Dritte Weg" zwischen normativem Anspruch und sozialwirtschaftlicher Realität. Endbericht eines Projekts für die Hans-Böckler-Stiftung, Juli 2012.




Sperren und Sanktionen - die "schöne" Welt der Arbeitslosen (09.07.2012)

Im Jahr 2011 wurden insgesamt 912 185 Sanktionen gegen langzeitarbeitslose Menschen verhängt (in Jena waren es etwa 1.000). Der überwiegende Teil erfolgte wegen so genannter Meldeversäumnisse, aber auch aufgrund unzureichender Bewerbungsbemühungen, Nichtteilnahme an Maßnahmen etc. Wer sich gegen die Leistungskürzung zur Wehr setzt, hat - das ist nichts Neues - gute Chancen Recht zu bekommen. Das ergab eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Etwa 40% der 65.000 Widersprüche gegen Sanktionen hatten Erfolg, bei den nach erfolglosen Widersprüche eingereichten über 6.000 Klagen waren es sogar 54%.
Wer aber glaubt, nur langzeitarbeitslose Menschen würden bestraft, der irrt. Auch die so genannten Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld I haben deutlich zugenommen. Im Jahr 2011 verhängte die Bundesagentur für Arbeit nach eigenen Angaben 728.223 Sperren. Das waren fast doppelt soviel wie im Jahr 2004. Auch die Quote hat sich erhöht. Bezogen auf die Zahl der in einem Jahr neu registrierten Arbeitslosen lag diese 2004 bei 9,1% und erreichte im vergangenen Jahr ihren bisherigen Höchststand von 28,8%!
Dies kommt nicht von ungefähr, denn auch im Bereich der SGB III wurden die Bedingungen des Leistungsbezugs deutlich verschärft. Obwohl es sich um eine Versicherungsleistung handelt, reicht schon eine "verspätete Arbeitssuchendmeldung" aus, damit das ALG I für mindestens eine Woche gestrichen wird. Es gibt ebenso wie bei Hartz IV die Straftatbestände des "Meldeversäumnisses" und der "unzureichenden Eigenbemühungen". Eine Sperre von bis zu 12 Wochen kann verhängt werden, wenn jemand "ohne wichtigen Grund" seine Arbeit aufgibt. Das gleiche gilt für einen Aufhebungsvertrag oder wenn der Arbeitgeber wegen "vertragswidrigem Verhalten" kündigt.
Gründe für eine Eigenkündigung, die keine Sperre nach sich zieht, können sein (neben privaten Gründen für Umzug zum Partner o.ä.): wenn der Arbeitgeber keinen Lohn zahlt oder er den Arbeitsvertrag nicht einhält, wenn er keinen Tariflohn zahlt oder der Lohn sittenwidrig ist. (Mobbing ist auch ein Grund, aber schwer nachzuweisen.)
Eine Sperre bedeutet, dass gar kein Geld gezahlt wird und sich die Anspruchdauer verkürzt. Während der Sperre kann Frau/Mann ALG II beantragen, muss aber mit einer Sanktion wegen "Fehlverhaltens" von 30% rechnen.
Auch gegen Sperrzeiten sind Widersprüche und Klagen nicht ohne Chance. Bei den vorliegenden, aus dem Jahr 2009 stammenden Zahlen wurden 38% der 76.000 eingelegten Widersprüchen (9% aller Sperrzeiten) stattgeben.
(Quellen: www.sozialpolitik-aktuell.de, www.sozialleistungen.info)




"Reform" der Pflegeversicherung - "gepflegt" werden private Versicherungen (02.07.2012)

Der Bundestag hat die Erhöhung der Beiträge für die Pflegeversicherung beschlossen, obwohl diese eigentlich bis zum Jahr 2015 stabil bleiben sollten. Nun wird ab Januar 2013 der Beitragssatz von derzeit 1,95% auf 2,05% steigen. Die zusätzlichen Mittel sollen für die Pflege demenzkranker Menschen genutzt werden. Dabei wird für Menschen, die keine Pflegestufe haben, ein Pflegegeld von 120 € (oder Sachleistungen in Höhe von 225 €) gezahlt, bei einer vorhandenen Pflegestufe die Mittel aufgestockt.
Zur Erinnerung: Die Pflegeversicherung war erst 1995 eingeführt worden. Zuvor mussten bei Pflegebedürftigkeit die eigenen Rücklagen eingesetzt - und wenn das nicht ausreichte - Sozialhilfe beantragt werden.
Damit sich die Arbeitsgeber paritätisch an der Pflegeversicherung beteiligten, wurde damals der so genannte Buß- und Bettag als Feiertag gestrichen. (Erhalten blieb er nur in Sachsen, wo der Arbeitnehmerbeitrag deshalb höher ist.) Die Diskussionen um die Pflegeversicherung haben seitdem nicht aufgehört. Vor allem geht es um die Finanzierung bei einer zunehmenden Überalterung der Gesellschaft. Wohlfahrtsverbände kritisierten deshalb auch die Mittelerhöhung als unzureichend.
Die Bundesregierung hat außerdem die Bezuschussung einer privaten Vorsorge beschlossen. Wer mindestens 10 € in eine private Pflegeversicherung einzahlt, erhält 5 € dazu. Nach der privaten Krankenversicherung und der Förderung privater Altersvorsorge kommt nun die staatliche Unterstützung der privaten Pflege. Da stellt zunächst die Frage, warum diese Mittel nicht in die gesetzliche Rentenversicherung fließen? Denn mit einem Beitrag von 15 € im Monat wird kaum eine finanzielle Absicherung des Risikos Pflegebedürftigkeit möglich sein. Und wer kann sich eine private Vorsorge leisten? Vor allem diejenigen, die auch eine private Altersvorsorge finanzieren können. Hinzu kommt, dass von der "Reform" wieder einmal die Versicherungsfirmen profitieren. Warum wurde das Gesetz so und nicht anders gestaltet? Welche Lobbyisten der Versicherungsunternehmen waren hier beteiligt? "Transparency International Deutschland" stellt die Frage nach dem Zusammenhang von hohen Parteispenden (mehr als 1 Million € im Jahr 2009) an die Regierungsparteien CDU und FDP, die von Vermögens- und Versicherungsberatungsfirmen kamen (Quelle: Neues Deutschland, 30.06.2012)
Die grundsätzliche Frage aber lautet: warum werden Gesundheit und Wohlbefinden im Alter immer mehr zu einer privaten Angelegenheit? Nur wer ausreichend Geld hat, kann auf eine adäquate Behandlung und Pflege hoffen. Und da Alters- und Pflegeheime ebenso wie Krankenhäuser wirtschaftlich arbeiten müssen, geht es auch den Pflegekräften nicht unbedingt besser.




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